Methan-Anstieg: Auf der Jagd nach den undichten Stellen
Der Wind peitschte in Martin Blumenbergs Gesicht, die an Bord spülenden Wellen durchnässten seine Sicherheitsschuhe, manchen seiner Kollegen wurde beim Arbeiten an Deck und im Labor mulmig. Windstärke 8 ist zwar nicht ungewöhnlich auf der Nordsee und auch nicht problematisch für das deutsche Forschungsschiff FS Heincke. Aber die teils tonnenschweren Instrumente mussten auf ihren Einsatz warten, bevor der Kran sie wieder zum Meeresboden fieren durfte.
Einzig die Hydroakustik lief noch: Wie eine Fledermaus sendete das unter dem Schiffsbug installierte Fächerecholot Schallwellen ausgewählter Frequenzen aus, um Gasblasen in der Wassersäule zu orten. Denn gesucht wurden bei der Ausfahrt 2019 Methanaustritte am Meeresboden – speziell bei Altbohrungen. Also jene über 16 000 stillgelegten und zuzementierten Bohrlöcher in der Nordsee, aus denen zwar nichts mehr gefördert wird oder die sich als unrentabel erwiesen, die aber womöglich Gas entkommen lassen.
Methan ist nach Kohlendioxid das zweitwichtigste Treibhausgas und entstammt sowohl anthropogenen als auch natürlichen Prozessen. Einen gewissen Anteil bilden auch Methanaustritte bei der aktiven Erdgas- und Erdölförderung sowie aus Altbohrungen. Methan verbleibt nur etwa ein Jahrzehnt in der Atmosphäre, also deutlich kürzer als das CO2 mit weit über einem Jahrhundert Verweildauer. Da Methan über 20 Jahre gesehen 85-mal stärker klimaaktiv als CO2 ist, wäre eine Reduzierung von Methangas-Leckagen eine Möglichkeit, um kurzfristig einen Beitrag gegen die Erderwärmung zu leisten.
Wo wie viel Gas austritt, ist unklar
Allerdings ist längst nicht klar, wo wie viel leckt, wie Martin Blumenberg von der BGR (Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe) erläutert: »In der so genannten Erdgasvorkette, die alles von der Produktion bis zur Nutzung umfasst, wird gebohrt, gefördert, gereinigt, komprimiert, transportiert via Gasleitungen, verteilt auf die Länder und abschließend in Kellern mit Gasheizungen genutzt oder zur Stromproduktion in die Kraftwerke geleitet. Bei all diesen Schritten kann Gas verloren gehen, und das tut es auch. Die Frage ist, wie viel und wo, denn das betrifft letztendlich die Treibhausgasbilanz der Gasnutzung.«
Der Environmental Defense Fund EDF machte im Zusammenhang mit einer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift »Science« bereits 2018 darauf aufmerksam, dass Methangas-Leckagen in der US-amerikanischen Erdgaskette mit mindestens 13 Millionen Tonnen pro Jahr wesentlich höher lägen, als bis dahin angenommen wurde. Methan ist für das Auge unsichtbar, aber mit einer Infrarotkamera kann man es an Land visualisieren. Eine Schlüsseltechnologie könnten spektrometrische Satellitenmessungen werden.
Noch ist eine globale Bilanz nicht erfassbar, da vorhandene Erdbeobachtungssatelliten wie Copernicus nur großflächige Superemitter auflösen können, wie etwa eine defekte Pipeline, aus der das unter Druck transportierte Gas in großen Mengen herausströmt, oder eine riesige Mülldeponie. Doch Kleinvieh macht auch Mist. Das EDF will daher noch dieses Jahr seinen »MethaneSat«-Satelliten ins All bringen, damit mittels hoch aufgelöster Methanmessungen auch all die unauffälligeren Leckagen in Echtzeit identifizierbar werden. Auch die künftigen europäischen Satelliten »Sentinel5« und »CO2M« sollen detaillierte Methanmessungen ermöglichen.
Die Hoffnung auf den benötigten Informationsgewinn mit Hilfe der neuen Satellitengeneration beschränkt sich aber erstmal auf das Land. Denn es scheint unwahrscheinlich, dass Satelliten Methanaustritte aus dem Meer messen und ihren Ursprungsort zuordnen können. Das ist bereits unter Wasser kompliziert, aber nicht wegen des Wellengangs oder wegen der Strömung, die über den Ursprungsort von Gasaustritten hinwegtäuschen kann. Nein, kompliziert wird es offshore wegen noch offener Fragen bezüglich Ursprung, Austrittsprozess und Messmethodik.
Lecksuche im Entenschnabel
2019 wollte der Geochemiker Blumenberg unter der Fahrtleitung von Katrin Schwalenberg gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen der BGR, des MARUM Bremen und des GFZ Potsdam den so genannten Entenschnabel näher untersuchen, denn in diesem Bereich des deutschen Nordseesektors war bis dahin nur wenig über Methanaustritte bekannt. Der Sturm tobte mehrere Stunden, schließlich musste das Team auch die Hydroakustikmessungen abbrechen – stark verrauschte Daten taugen schließlich nichts.
Es war aber nur eine kurze Zwangspause für den Forschungsbetrieb auf dem Forschungsschiff (FS) Heincke, der ansonsten durchgängig Tag und Nacht für die verschiedenen Disziplinen lief. Die Forschenden untersuchten mit verschiedenen ozeanografischen, geophysikalischen und geochemischen Methoden die Wassersäule, den Meeresboden und die oberen Sedimentschichten vor allem nach Indikatoren von Methanaustritten und Gasansammlungen. Tagsüber sammelte das Team des Schiffs Wasser- und Sedimentproben und analysierte sie im geochemischen Schiffslabor auf Methan und andere Kohlenwasserstoffe. Geophysikalische Messgeräte lieferten Daten über geologischen Strukturen und elektrischen Eigenschaften des Untergrunds, denn Gasansammlungen hinterlassen in seismischen Abbildungen Spuren, und die schlechte elektrische Leitfähigkeit von Gas macht es zumindest in größeren Mengen detektierbar.
Nachts liefen zusätzlich zum Tagbetrieb verschiedene hydroakustische Systeme, um die stark reflektierenden Gasblasen in der Wassersäule und im Sediment aufzufinden. Eine zuweilen ermüdende Aufgabe für Miriam Römer, stundenlang auf den Monitor zu starren, um jeden plötzlich auftauchenden Gasaustritt zu erfassen. Doch die Bremer Forscherin vom MARUM konnte auf dieser Ausfahrt fast täglich bislang unbekannte »Flares« im Untersuchungsgebiet nachweisen.
»Ein Gasreservoir könnte auch durch ein mehrere hundert Meter entferntes Bohrloch angezapft werden«Matthias Haeckel, GEOMAR
Nur nicht an den zehn gründlich untersuchten Bohrlöchern fanden die Forschenden weder mittels Hydroakustik noch mit Wasserproben oder geophysikalischen Messungen Methanaustritte, wie sie 2021 in »Frontiers of Earth Sciences« berichteten. Für manche war das vielleicht überraschend, schließlich fanden andere Forschende durchaus bemerkenswerte Methanaustritte bei anderen Nordsee-Bohrungen.
Wie Bohrungen Erdgas entkommen lassen
In den Meeresboden zu bohren, kann nämlich Methan freisetzen, wenn zum Beispiel Gas führende natürliche Schichten durchstoßen werden. Geowissenschaftler unterscheiden hier zwischen dem zu fördernden »thermogenen« Methangas, das in einigen Kilometern Tiefe bei mehr als 90 Grad Celsius abiotisch aus der Organik herausgekocht wird, und dem »biogenen« Gas, das durch mikrobiellen Abbau von organischen Substanzen bei niedrigen Temperaturen in oberflächennahen Erdschichten entsteht.
90 Prozent der natürlichen, marinen Methanaustritte sind biogen, erklärt der GEOMAR-Biogeochemiker Matthias Haeckel. Sein Team postuliert, dass Bohrlöcher zwei Leckage-Prozesse in biogenen methanhaltigen Sedimenten in Gang setzen können.
Erstens würde der Bohrvorgang selbst Frakturen oder Wegsamkeiten in den unmittelbaren umgebenden Sedimentschichten bilden, durch welche biogenes Methan entweichen kann, sofern es dort existiert. »Nehmen Sie mal einen Strohhalm, stecken den in toniges Sediment und drehen sie ihn – das wird dann nicht komplett abschließen«, verdeutlicht Haeckel den ersten offensichtlichen Leckage-Prozess. Daher gibt es derweil Richtlinien in europäischen und norwegischen Gewässern, dass an einer Stelle nicht nach einem thermogenen Gasreservoir gebohrt werden darf, wenn hierbei eine oberflächennähere biogene Gasansammlung durchstoßen würde.
Doch Haeckels Gruppe postulierte noch eine zweite Hypothese, die in der Fachwelt zu einem heißen Disput führte. Die GEOMAR-Forscher beobachteten Gasaustritte über alten Bohrlochstationen, die ihrer Ansicht nach von weiter entfernten Gasansammlungen gespeist wurden: »Ein Gasreservoir könnte auch durch ein mehrere hundert Meter entferntes Bohrloch angezapft werden, denn der Boden um das Bohrloch herum erfährt eine Druckentlastung und bewirkt so einen Druckgradienten entlang der horizontal abgelagerten Sedimentschichten«, meint Haeckel.
Der Streit um das wandernde Methan
So würden neue Wegsamkeiten für weiter entfernte Gasansammlungen geschaffen, das Gas würde entlang der Druckgradienten zu den Bohrlochfrakturen und von da aus nach draußen strömen können. »In einem Bohrloch, aus dem biogenes Gas austrat, war die nächstgelegene flache Gasansammlung, die als einzige Quelle in Frage kam, sogar einen Kilometer entfernt«, erläutert Haeckel.
Das Meerwasser löst zwar das freie Gas, doch in der nur 20 bis 120 Meter flachen Nordsee dürfte Haeckels Einschätzung zufolge immerhin ein Drittel des aus Bohrlöchern austretenden Methans noch in die Atmosphäre gelangen.
In der 2020 im »International Journal of Greenhouse Gas Control« veröffentlichten Studie erstellte Haeckels Team dann eine Statistik, die für Furore sorgte. Denn aus ihren seismischen Auswertungen an 50 ausgewählten Bohrlöchern berechneten sie die Wahrscheinlichkeit, ab welchem Abstand zu einer natürlichen Gasansammlung man mit einem leckenden Bohrloch rechnen dürfe: Demnach erzeugten, ihrer statistischen Auswertung nach, biogene Methandepots in unter 300 Meter Entfernung Gasaustritte am Bohrloch selbst; mit zunehmender Entfernung nehme die Wahrscheinlichkeit von Austritten am Bohrloch ab.
Diese These überprüften sie hydroakustisch an 20 Bohrungen, die sie mit dem Schiff anfahren konnten, und bestätigten ihre neue Methode als ein wirksames Prognosewerkzeug. Weiterhin rechneten sie hoch, dass allein in ihrem Untersuchungsgebiet von 1700 Bohrlöchern insgesamt 900 bis 3700 Tonnen Methan austreten könnten. »Global betrachtet schätze ich fünf bis sieben Prozent höhere Methanemission im Öl- und Gassektor. Aber die Quellen und Senken, ob anthropogen oder natürlich, sind insgesamt nicht gut bestimmt«, sagt Haeckel.
Diese beachtlichen Zahlen erhielten Aufmerksamkeit, doch in einem wissenschaftlichen Kommentar kritisierte der niederländische geologischen Dienst TNO die Studie wegen der seismischen Methodik und Interpretation scharf. Auch in der TNO-Antwort auf eine niederländische Parlamentsanfrage zu den vorangegangenen Studien erklärte die niederländische Behörde die GEOMAR-Hochrechnung für überschätzt. Haeckels Team verfasste daraufhin 2021 eine detaillierte Gegendarstellung, in der sie Statistik ihres Datensatzes eingehend erklärten.
Bohrverbot für weite Teile des Meeresbodens?
Obgleich ein solcher wissenschaftlicher Schlagabtausch nichts Ungewöhnliches ist, zeigt er die Brisanz der Thematik. Denn Haeckels Vorschlag, dass zur Vorbeugung zukünftig kein tieferes Bohrloch im Umkreis von einem Kilometer um oberflächennahe Gasansammlungen gesetzt werden sollte, könnte für die Öl- und Gasindustrie eine Erhöhung der Bohrkosten bedeuten. Allerdings ist noch unklar, wie repräsentativ die Berechnung für Bohrungen insgesamt ist.
»Es ist die erste statistische Abschätzung dieser Art und müsste dringend um die anderen tausenden Bohrlöcher erweitert werden. Doch die Prüfung wäre eine Aufgabe der Öl- und Gasindustrie, nicht der Forschung mit ihren begrenzten Mitteln«, findet Haeckel. Er stimmt der TNO-Kritik daher in dem einen Punkt zu, dass noch viel mehr Bohrlöcher angefahren und mit Gasproben ausgewertet werden müssten, denn seine Hochrechnungen der gesamten Gasaustrittsmenge beruhte auf direkten Probeentnahmen über nur drei Bohrlöchern – mehr Tauchgänge erlaubten Wetter und Seegang während der kurzen Ausfahrten nicht; und Forschungsschiffe sind nun mal selten verfügbar.
Da hatte das Projektteam, das bereits 2019 Altbohrungen in der deutschen Nordsee untersucht hatte, mehr Glück. Denn als die deutschen Forschungsschiffe auf Grund der Corona-Pandemie aus allen Weltmeeren zurückbeordert wurden, ermöglichten die durch abgesagte und verschobene Ausfahrten hier zu Lande weiter gehende Messungen in den frei gewordenen Zeitfenstern. Nach erfolgreicher Antragstellung war das stattlich ausgerüstete Forschungsschiff Merian recht kurzfristig verfügbar geworden, das wesentlich größer als die FS Heincke ist und dank ihres Stabilisationssystems noch bei höherem Seegang Messungen an einer Stelle erlaubt – zu Blumenbergs Zufriedenheit.
Unter der MARUM-Fahrtleitung von Miriam Römer konnte das Forschungsteam daher in der Nordsee weitere Altbohrungen mit vielen verschiedenen Methoden untersuchen. Denn für Blumenberg stand außer Frage: »Es gibt ein Problem mit Altbohrungen. Aber wie man sich dem Thema nähert, dafür gibt es verschiedene Ansätze; und wie relevant solche Austritte sind, ist weiter unklar.«
Wie wichtig sind natürliche Gaslecks?
BGR und MARUM sahen sich 2021 neun weitere Bohrlöcher im deutschen Sektor der Nordsee an, fuhren dafür aber mit Hydroakustik sehr genau in einem Netz über die jeweiligen Bohrungen, um die Wassersäule zu untersuchen und um Methan geochemisch zu identifizieren. Auf einen Aspekt legten die Forschenden ein Augenmerk, das aus ihrer Sicht nicht in allen Arbeiten ausreichend berücksichtigt wurde – natürliche Gasaustritte auch in der Nähe von Bohrungen: »Dabei haben wir gelernt, dass man auch mit kleinem Gerät von der Stange, das von cleveren Leuten wie Szymon Krupinski vom MARUM umgebaut wird, auch in der Nordsee Proben gewinnen kann«, schwärmt Blumenberg. »Erstmalig konnten wir in der Nordsee mit einem derart kleinen Roboter Gasblasen auffangen, die wir im Labor geochemisch analysierten, ob sie thermogenen oder biogenen Ursprungs sind.«
Mit dem mannsgroßen Kranzwasserschöpfer ergänzten die Forschenden die Hydroakustikmessungen: »Wir setzten ihn auf jeder Bohrung und an natürlichen Gasaustritten aus, um im An- und Abstrom Proben zu entnehmen. So konnten wir ausschließen, dass das an einer Stelle gemessene Methan nicht etwa von einer anderen Quelle kommt«, erläutert Blumenberg. Und so stießen sie auf das Phänomen »BERTA«, einem untermeerischen Salzstock. BERTA ist ein Gebiet mit sehr auffällig erhöhter natürlicher Methangaskonzentration, die allerdings von Gasaufstiegen an Schwächezonen oberhalb des Salzstocks stammen und nichts mit Altbohrungen zu tun haben.
Man bohrt gern in der Nähe von Salzstöcken, weil sich an deren Flanken oft Öl oder Gas angesammelt hat. Um solche Gase scheint es sich jedoch bei BERTA nicht zu handeln, möglicherweise gibt es eine andere Quelle. Blumenberg erklärt: »Der Teil der Nordsee war vor 10 000 Jahren Land, dort gab es Flüsse mit Pflanzenablagerungen und anderem kohlenstoffreichem Material, die zu großen Torfvorkommen geführt haben. Mikroorganismen bilden bis heute daraus Methan, das in den tieferen Nordseesedimenten zu finden ist.«
Dieser wissenschaftlich spannende Hintergrund, den die Forschenden in »Frontiers in Earth Science« veröffentlichten, dient jetzt als Modell für die Entstehung von biogenem Gas mit speziellen Anomalien. Er verdeutlicht, dass es viele marine Methanaustritte gibt, die nicht von Menschenhand, sondern natürlich sind. Wenn man den menschlichen Einfluss auf das Methan durch marine Altbohrungen bemessen will, muss man diese natürlichen Quellen herausrechnen.
Widersprüchliche Daten, fehlende Daten
Die Forschenden der beteiligten Institute fanden nämlich keine Methanaustritte an den von ihnen untersuchten Altbohrungen, von denen eine Reihe auch durch flache Gastaschen gebohrt wurden. Das bedeutet nicht, dass keine von den knapp 200 anderen im deutschen Sektor der Nordsee befindlichen Altbohrungen lecken würden. Es steht auch nicht im Widerspruch zu den 20 von Haeckels Team angefahrenen Bohrlöchern im britischen Sektor der Nordsee. Aber es verdeutlicht: Mehr Messungen sind notwendig, wenn die Bilanz von Leckagen hier zu Lande und in der restlichen Nordsee genauer ermittelt werden soll.
Auch zu den 20 000 Altbohrungen an Land allein in Deutschland gibt es kaum Studien. Besser sind die Daten über die Millionen von Altbohrungen in den USA. Allerdings sind Vergleiche zwischen Ländern schwierig, etwa wegen unterschiedlicher bergbaurechtlicher Vorschriften. In den USA beispielsweise gehört jedem Landbesitzer auch der Untergrund, während in Deutschland alle Rohstoffe in der Tiefe dem Bundesland gehören. Das lässt möglicherweise Bohrlöcher mit einer anderen Effizienz und Verantwortlichkeit durch Bohrunternehmen setzen beziehungsweise versiegeln – unabhängig vom aktuellen Weltmarktpreis.
Die Arbeitsgruppe um Mary Kang veröffentlichte dazu in »PNAS« eine spannende Korrelation zwischen dem Ölpreis und Anzahl an Bohrungen. Sie zeigte: Bei steigenden Ölpreisen wird in den USA mehr gebohrt. Bei sinkendem Ölpreis hingegen werden Bohrlöcher vielleicht zu schnell wieder verlassen. Denn Kangs Team untersuchte allein im Bundesstaat Pennsylvania 750 000 verlassene Bohrlöcher und fand heraus, dass noch nach Jahren Methan aus diesen ausströmte.
In Deutschland gibt es keinen solchen Zusammenhang zwischen dem Ölpreis und Bohrungen. Womöglich sind die Prozesse und Genehmigungen bis hin zur Produktion, aber auch bei der Versiegelung hier strenger, glaubt Blumenberg. Um die Situation in Deutschland und Europa besser zu verstehen, will Mary Kang daher mit europäischen Forschungsgruppen und der BGR – mit Martin Blumenberg ein Projekt starten.
An Land untersucht die BGR jetzt Altbohrungen in Niedersachsen, wo es viele historische Öl- und Gasbohrungen gibt. Seegang und begrenzte Schiffszeiten spielen jetzt zwar keine Rolle mehr, dafür kämpft Blumenberg mit neuen Schwierigkeiten, wenn etwa ein Maisfeld über dem zu untersuchenden Bohrloch liegt. Sein Team nimmt unter anderem mit einer Spezialspritze Bodenluft aus tieferen Bodenschichten, um diese im Labor zu analysieren.
Auch mit Lecks ist Erdgas noch grüner als Kohle
Mit Infrarotkameras und Methanschnüfflern waren auch Journalisten des amerikanischen Medienzentrum Boomberg L.P. unterwegs und enthüllten im Oktober 2021 in mehreren Medienberichten, dass es in den Appalachen viele alte, leckende Gasbohrungen gibt, bei denen erstmal nicht mit einer ordentlichen Versiegelung zu rechnen sei. Ein großer Teil der Bohrlöcher wird vermutlich deswegen nicht versiegelt, weil das Zubetonieren eines Bohrlochs mehr als 10 000 US-Dollar kostet.
Auch wies die Deutsche Umwelthilfe DUH im Sommer 2021 mit Infrarotkameras »signifikante« Methan-Emissionen an 15 oberirdischen Erdgasanlagen nach und sprach von großen Versäumnissen. Als das EDF in Hamburg nach Leckagen in der städtischen Erdgas-Infrastruktur gesucht hatte, fand die Arbeitsgruppe wiederum keinen nennenswerten Gasemissionen, vermutlich weil – anders als in anderen Ländern – die Infrastruktur hier zu Lande bereits erneuert wurde: Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde Erdgas in Deutschland noch durch gusseiserne Rohre mit Undichtigkeiten in den Schweißnähten transportiert, doch derweil sind die Rohre längst durch dichtere Kunststoffrohre ersetzt worden.
Die Erdgasvorkette muss also an anderen Stellen oder auf dem Weg nach Deutschland aufmerksam nach Leckagen untersucht werden. Manche meinen, dass so viel Methan entweiche, dass Kohle sogar dem Erdgas vorzuziehen sei, aber Blumenberg ist da anderer Meinung: »Erdgas sei zwar nicht das Optimum, sondern nur eine Brückentechnologie.« In einer Veröffentlichung 2021 in der Fachzeitschrift »Scientific Reports« begründete er zusammen mit Kolleginnen und Kollegen rechnerisch, dass die Erdgasvorkette auch dann noch für Deutschland eine bessere Lösung als Kohleverstromung darstelle, wenn alle Leckagen wie – im schlimmsten Fall – erwartet ausfielen.
Doch auch wenn Leckagen an deutschen Altbohrungen eine untergeordnete Rolle spielen, ist sich Blumenberg nach über 20 Jahren Forschung zu Methan sicher: »Das Verständnis möglicher Methanausgasungen an Bohrungen bleibt in einer Welt, die verstärkt auf Erdgas als Brückentechnologie setzt, sehr wichtig.«
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